Spiegel: Waldorflehrer-Ausbildung. „Ich habe mich gefühlt, als würde ich unendlich dümmer werden“

Der Spiegel und das Sommerloch

Welche Enthüllungsstory darf‘s denn sein? Die Redaktion fordert: Es muss Klicks bringen. Es sind Sommerferien, bald startet die Schule – und da gibt es noch den Lehrkräftemangel. Da haben wir’s doch schon: Ein Bildungsthema, das Klicks bringt: WALDORFSCHULE. Geht immer!

Flugs geschaut, welche Möglichkeiten haben wir denn da:

  • Esoterik (viele Pluspunkte bei der aufgeklärten Leserschaft).
  • Hellseherei (Abgefahrenheits-Punkte).
  • Krude Geschichten, von schützenswerten Zeug:innen dargeboten (anekdotische Evidenz, en-vogue-Punkte).
  • Institutionen, die man mit langen Fragebögen zu unbelegten, dubiosen Anwürfen beschicken kann (Fleißpunkt, weil man die Antworten lesen und verarbeiten muss. Oder doch nur: halber Fleißpunkt, denn auf Interview-Angebote lässt man sich lieber nicht ein).

Und die Ausbildung von Lehrkräften an Waldorfschulen, die nicht zwingend ein Lehramtsstudium absolviert haben müssen (Punkte für mal was davon gelesen haben). Dieser wohl ursprüngliche Recherche-Schwerpunkt lässt sich aus dem Fragebogen ableiten, der den Bund der Freien Waldorfschulen erreichte mit dem Tenor: „Bei euch unterrichten Menschen, die kein Lehramtsstudium absolviert haben!“ Nein! Doch! Oh … das ist in Zeiten des Lehrkräftemangels an allen Schulen so! Und wie hoffentlich an allen Schulen gilt an Freien Waldorfschulen, dass wer unterrichten will, dazu eine staatliche Genehmigung braucht. Und die ist an Bedingungen gekoppelt, die sich von Bundesland zu Bundesland unterscheiden, zum Kern aber immer die Notwendigkeit der Gleichwertigkeit der Ausbildung haben.  

Eine der weiteren Fragen: Ob unserer Ansicht nach die Bachelor-/Master-Studiengänge an den Waldorf-Hochschulstandorten dem staatlichen Lehramtsstudium fachlich in nichts nachstehen. Das ist allerdings der Fall. Wobei unsere Ansicht dabei weniger ausschlaggebend ist als die der öffentlich-rechtlichen Stiftung Akkreditierungsrat, die diese Studiengänge mit gesetzlichem Auftrag akkreditiert. Ein Vorgang übrigens, bei dem es absolut üblich ist, dass Nachbesserungen gefordert werden, denen die Hochschule selbstverständlich innerhalb eines gesetzten Termins nachkommt.

Der erste Aufhänger – es unterrichten selbstverständlich auch Menschen ohne Lehramtsstudium an Waldorfschulen – musste also augenscheinlich ad acta gelegt werden. Blieben noch die gruselig-kruden Anwürfe.

Platz eins belegt die frei erfundene Pflicht: „Wer eine Ausbildung zum Waldorflehrer macht, muss zum Grab von Rudolf Steiner pilgern“. Das ist schlicht falsch. Und das Pilgern zum Grab eines Menschen, dessen philosophisches Lebenswerk man schätzt, sicherlich kein Zeichen esoterischer Sektenhaftigkeit. Oder wie ist das mit den Menschen, die in Paris am Grab von Jim Morrison stehen, weil sie den Musiker schätzen oder von Heinrich Heine, weil sie den Schriftsteller schätzen?

Das Goetheanum als Gebäude, in dessen Umgebung sich die Grabstätte befindet, ist auch kein „internationales Zentrum seiner [Steiners] Gefolgschaft,“ wie der Autor fälschlich annimmt. Es ist ein denkmalgeschützter Bau, der von Kenner:innen als eines der wichtigsten Bauwerke des 20. Jahrhunderts eingestuft wird. Es ist Sitz der Anthroposophischen Gesellschaft, Tagungsort und wichtige Bühnenstätte für die Region.

Zur Ausschmückung des Kruden kommen im Artikel vier Absolvent:innen zu Wort, zwei davon unterrichten nicht an einer Waldorfschule – ob es darum schade ist? Die Feststellung, „nicht alles, was sie sagen, lässt sich nachprüfen“, auch wenn sich vieles, was sie erzählten, mit „früheren journalistischen Recherchen“ decke und von an der Stelle nicht näher benannten Wissenschaftler:innen „als realistisch eingestuft“ werde, liefert der Autor gleich vorsorglich selbst mit.

Mit den Fakten nimmt er es auch ansonsten nicht so ernst:

  • Dem promovierten Dr. phil. Rudolf Steiner spricht er ab, eine abgeschlossene Hochschulausbildung zu haben.
  • Ein generelles Fotografierverbot gibt es am oder um das Goetheanum nicht.
  • In der Waldorfpädagogik diskutierte Erklärmodelle werden falsch wiedergegeben.

Was bleibt also? Der Versuch einer Verdachtsberichterstattung, ein kurzer Aufreger, Klicks? Schade, lieber Spiegel.

Nele Auschra
Vorstand Bund der Freien Waldorfschulen

PS. Wer unter den rund 9.000 Waldorflehrkräften in Deutschland Lust hat, seine Erfahrungen mit der Waldorflehrer:innen-Aus- und Weiterbildung mit uns zu teilen, erreicht uns unter pr@waldorfschule.de oder schreibt direkt an Lukas Hildebrand, der dazu in seinem Artikel dezidiert aufruft (Paywall, https://www.spiegel.de/start/ausbildung-zum-waldorflehrer-von-mondknoten-atlantis-und-reinkarnation-a-17a3fbbb-f23f-421c-aee3-1b6e06d3e615).­


06.09.2024: Der Spiegel unterzeichnet Unterlassungserklärung wg. Falschaussage – zur Meldung der Freien Hochschule Stuttgart.


Zur Stellungnahme der Freien Hochschule Stuttgart und des Waldorflehrerseminars Hamburg.

Die Freie Hochschule Stuttgart hat den sehr aufschlussreichen Leserbrief von Prof. Volker Ladenthin, Universität Bonn, veröffentlicht, den der Spiegel bislang nicht aufgegriffen hat.


29.08.2024, Randnotiz: Zum Schuljahresbeginn in Berlin sind von 4.762 neu eingestellten Lehrkräften 3.300 „sonstige“ – also Kolleg:innen ohne abgeschlossenes Lehramtsstudium (https://www.news4teachers.de/2024/08/gew-ohne-seiteneinsteigende-wuerde-der-schulbetrieb-zusammenbrechen)